24.01.2018

"Kinder in ihrer Individualität stärken“

Die Integrative Kita im Theresienheim nimmt als eine von sechs saarländischen Kindertagesstätten am Modellprojekt „Kita differenzsensibel - Vielfalt und Teilhabe in der frühen Bildung!“ im Bundesprogramm „Demokratie leben“ teil
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„Das Recht des Kindes auf Bildung und auf Schutz vor Diskriminierung ist in der UN-Kinderrechtskonvention.“ Das ist einer der Kerngedanken des Projekts „Kita differenzsensibel“, an dem die Integrative Kita im Theresienheim als eine von sechs saarländischen Kindertagesstätten teilnimmt. „Frühe Bildung braucht Konzepte, um den unterschiedlichen Lebenswelten heutzutage gerecht zu werden und insbesondere Kinder in ihrer Individualität zu stärken. Leider erleben manche Kinder zum Teil schon sehr früh Diskriminierung und gesellschaftliche Abwertung oder sind auch selbst an Ausgrenzung beteiligt“, erklärt Prof. Dr. Iris Ruppin, die das Projekt für die Hochschule für Technik und Wirtschaft Saar wissenschaftlich begleitet.


Das Modellprojekt „Kita differenzsensibel“ startete im September 2016 mit einer breit angelegten Explorationsstudie, also einer Befragung von pädagogischen Fachkräften und Familien zu den Themen Heterogenität, (Anti-)Diskriminierung und Partizipation in der frühen Bildung, sowie einer Auswertung von 54 Kinderbefragungen innerhalb eines Forschungsprojektes von Prof. Dr. Iris Ruppin (siehe Interview). Die Arbeit mit den sechs Kindertagesstätten wird in Form von Teamfortbildungen und einer kontinuierlichen Prozessbegleitung über die Projektlaufzeit von über drei Jahren umgesetzt. Die Familien werden mittels Beratung, Workshops und Gesprächsrunden angesprochen. Ansatz ist die Förderung von Demokratie und Vielfalt durch differenzsensible und diskriminierungskritische Haltungen und die entsprechende Gestaltung von Strukturen und Rahmenbedingungen. „Dazu gehört auch die Anerkennung des Einzelnen als komplexes Individuum und die Wertschätzung vielfältiger Lebensweisen von Familien“, betont Ruppin.


Katja Roos, Leiterin der Integrativen Kita im Theresienheim und selbst Fachkraft für differenzsensible frühe Pädagogik, sieht die Kita als besonders geeignet: „Unser Haus ist ein Ort des Zusammentreffens und Zusammenlebens verschiedener Kinder mit ganz unterschiedlichen Begabungen, Orientierungen und Lernfeldern. Die pädagogischen Fachkräfte der Integrativen Kita und die Kinder selbst erleben dies als lebendige Vielfalt und als Reichtum in Erfahrungen und Begegnungen. Unterschiede werden so zum Ausgangspunkt neuer Perspektiven.“ Die Umsetzung und Arbeit innerhalb des Modellprojekts „Kita differenzsensibel“ sieht die Einrichtungsleiterin als Querschnittsaufgabe, die sich durch alle Handlungsfelder zieht, die direkte pädagogische Arbeit mit Kindern, die Zusammenarbeit mit den Eltern, die Teamarbeit und die Öffnung in den Sozialraum. „Es gibt hier kein ‚zehn Punkte-Programm‘ das nacheinander abgearbeitet wird, es ist vielmehr ein kontinuierlicher Prozess. Wenn wir uns auseinandersetzen mit Heterogenität und Diskriminierung, müssen wir uns auch bewusst darüber sein, aus welcher Gruppenzugehörigkeit heraus wir handeln. Das bedeutet, die eigene Biografie, die eigenen Wert- und Normalitätsvorstellungen zu reflektieren und in unser professionelles Handeln einzubinden“, so Roos.


Bereits etablierte Angebote der Kita wie das monatlich stattfindende „Café Klatsch“ oder „Familien in Bewegung“ als auch das neu entwickelte Projekt „Familien entdecken Saarbrücken“, sind Orte der Begegnung für Familien aus der Kita und aus dem Sozialraum. Dabei werden Kontakte geknüpft, soziale Netzwerke entstehen und gemeinsame Aktivitäten stehen auf dem Programm. Auf der neu entstandenen „Familienwand“ stellen sich die Jungen und Mädchen mit ihren Familien anhand von Fotos und einem kleinem Steckbrief einander vor. Dies gibt immer wieder Anlass für Gespräche mit den Kindern über Gemeinsamkeiten und Unterschiede. „Unterstützt durch die Sprachfachkraft der Kita achten wir im alltäglichen Miteinander auf eine differenzsensible Sprache. Mit Blick auf eine wertschätzende, vorurteilsbewusste Sprache und die Darstellung von Rollenklischees wurde auch der Bestand der hauseigenen Kinderbibliothek durchforstet“, erklärt Katja Roos. Ein neues Projekt, das „Buch des Monats“ fand so Einzug in die Kita: Die Sprachfachkraft und das Team wählen monatlich ein Buch aus, das von der „Vielfalt des Lebens“ erzählt und den Kindern und Eltern vorgestellt wird. Wenn die „kleine Bücherei“ der Kita unterwegs im Kultur- und Lesetreff Burbach ist, haben sie das „Buch des Monats“ immer im Gepäck. „Doch nicht nur Literatur, auch Raumgestaltung und Spielmaterial können stereotype Rollenbilder transportieren. Dies gilt es als nächsten Arbeitsschwerpunkt in den Blick zu nehmen“, sagt Roos abschließend.


Innerhalb des cts-Verbundes sollen die gewonnenen Erkenntnisse auch für die anderen vier Kindertagesstätten genutzt werden. „Differenzsensibilität ist eine von mehreren wichtigen Leitlinien, die in den Kitas des cts-Verbundes, trägerseits gewünscht und unterstützt, umgesetzt werden soll“, betont Dagmar Scherer, die Geschäftsleitung für den Bereich Kinder-, Jugend- und Behindertenhilfe der cts. Ein erster Schritt in diese Richtung wurde im November beim jährlichen Pädagogischen Tag für die Kitas mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu dieser Thematik gemacht.


Hintergrund
Das Modellprojekt „Kita differenzsensibel“ ist Teil des Bundesprogramms „Demokratie leben“ des Bundesfamilienministeriums. Träger des Projektes ist die FITT gGmbH an der HTW Saar. Es ist bis Ende 2019 angelegt. Saarlandweit sollen konkrete Praxismodule für die Arbeit mit Kindern und Familien entwickelt werden, die als transferfähige Produkte aufbereitet werden. Die Zusammenarbeit mit den Trägern wird in Form eines Beirates realisiert.
Kontakt: Andrea Adam, adam@gim-htw.de und www.kita-differenzsensibel.de

 

 

Interview mit Prof. Dr. Iris Ruppin zum Thema „Kinder und Demokratie“


In einer aktuellen Kinderbefragung hat Prof. Dr. Iris Ruppin von der Fakultät für Sozialwissenschaften und Pädagogik der Kindheit an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes 54 Kinder aus zehn Kindertagesstätten befragt. Über die Ergebnisse der Befragung haben wir mit ihr gesprochen.


Frau Prof. Ruppin, was wollten Sie mit Ihrer Untersuchung erforschen?
Ruppin: In vielen Studien werden Erzieher*innen zur pädagogischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen befragt. Die Perspektive der Kinder auf die Kindertagesstätte ist aber in nur sehr wenigen Studien das Thema, aber gleichzeitig wichtig für die pädagogischen Fachkräfte wie auch die Eltern. Daher ging es in der Studie „Kinder und Demokratie“ darum, herauszufinden wie Kinder ihre eigenen Lebenswelten, die Kindertagesstätte und die gesellschaftliche Situation wahrnehmen und diese bewerten.


Wie geht man an so ein Gespräch heran?
Ruppin: Die Befragung von Kindern muss einerseits ethisch diskutiert werden. Andererseits ist immer die „Allmacht der Erziehungssituation“ mitzudenken. Kinder versuchen in pädagogischen Situationen wie z.B. in der Kindertagesstätte die Antworten zu formulieren, von denen sie annehmen, dass die Erwachsenen sie hören wollen. Wir sprechen in der Interaktion von Erwachsenen und Kindern auch von „doing childhood“. Kinder nehmen oft erst durch die Interaktion mit Erwachsenen die typische „Kind-Rolle“ ein, da sie die Rollenverteilung kennen und versuchen, „mitzuspielen“. Da muss man dann ganz gezielt versuchen, ihre Perspektive einzunehmen.


Sie haben drei Typen von Kindern identifiziert. Welche sind das?
Ruppin: Einige Kinder haben erzählt, welche Anstrengungen sie unternehmen, um aus der Kindertageseinrichtung „abzuhauen“. Einige wollten so einen Weg unter dem Zaun hindurch graben. Gleichzeitig haben wir ein fünfjähriges Mädchen interviewt, das uns über eine Stunde die pädagogische Arbeit der Kindertagesstätte und die weltpolitische Situation erläutert hat. Die damalige weltpolitische Situation mit dem Krieg in Syrien, war übrigens bei ca. der Hälfte der Kinder ein Thema. Dem „hedonistischen Kind“ sind Freiheitsräume wichtig, bei ihm stehen Spiel und Spaß im Vordergrund. Das „de-konstruktivistische“ Kind empfindet Hierarchien, Werte und Normen als einschränkend und lehnt sie weitestgehend ab.
Was sind einige prägnante Situationen aus den verschiedenen Interviews, die Ihnen nachhaltig im Gedächtnis geblieben sind?
Ruppin: Einige Kinder haben erzählt, welche Anstrengungen sie unternehmen, um aus der Kindertageseinrichtung „abzuhauen“. Einige wollten so einen Weg unter dem Zaun hindurch graben. Gleichzeitig haben wir ein fünfjähriges Mädchen interviewt, das uns über eine Stunde die pädagogische Arbeit der Kindertagesstätte und die weltpolitische Situation erläutert hat. Die damalige weltpolitische Situation mit dem Krieg in Syrien, war übrigens bei ca. der Hälfte der Kinder ein Thema.

 

Welche Schlussfolgerungen ziehen sie aus den Ergebnissen? Wie gehen sie damit um?
Ruppin: Wichtig ist es in allen Dingen und Themen die Kinder betreffen die Perspektive der Kinder zu erforschen, da diese sensibel die Interaktionen mit pädagogischen Fachkräften, den Eltern und anderen Kindern wahrnehmen und formulieren. Wenn Kinder das Gefühl haben, dass die „mächtigen Erwachsenen“ die Dinge alleine regeln, akzeptieren sie dieses in der Regel. Alleine Kinder vom Typ 3 kritisieren die Situationen oder auch Interaktionen, in denen sie sich ungerecht behandelt fühlen. Sie beschweren sich und fordern Partizipation und Gerechtigkeit ein. Da es aufgrund der Ethik der Kindheitsforschung problematisch ist Kinder in Bezug auf Diskriminierung und Vorurteile zu befragen, wollen wir in den kommenden Monaten Kinder in Kindertageseinrichtungen beobachten, um auf diese Weise Informationen über das Denken und die Wahrnehmung von Kindern zu erhalten.

Integrative Kita im Theresienheim Luisenthaler Strasse 12, D-66115 Saarbrücken